ZU NEUEN UFERN
Am Tag
ihrer Abreise aus Tarnag versuchte Eragon, sich die Namen von
Ûndins Wachen einzuprägen. Sie hießen Ama, Tríhga, Hedin, Ekksvar,
Shrrgnien - ein Wort, das Eragon unaussprechlich fand und das
»Wolfsherz« bedeutete -, Dûthmér und Thorv.
Auf jedem Floß gab es in der Mitte eine
kleine Kabine. Eragon zog es jedoch vor, draußen auf den
zusammengebundenen Stämmen zu sitzen und das Beor-Gebirge
vorbeiziehen zu sehen. Über dem See kreisten Eisvögel und Dohlen,
während blaue Reiher das Sumpfufer entlangstelzten, auf das
einzelne, zwischen den Haselnusssträuchern, Buchen und Weidenbäumen
hindurchscheinende Sonnenstrahlen fielen.
Als Orik sich neben ihn setzte, sagte
Eragon: »Es ist wunderschön hier.«
»Finde ich auch.« Der Zwerg zündete seine
Pfeife an und lehnte sich paffend zurück.
Eragon lauschte dem Ächzen des Holzes und
der Seile, während Tríhga am Heck stand und das Floß mit einer
langen Holzstange steuerte. »Orik, kannst du mir sagen, warum Brom
sich damals den Varden angeschlossen hat? Ich weiß so wenig über
ihn. Für mich war er die meiste Zeit meines Lebens bloß der
Geschichtenerzähler im Dorf.«
»Er hat sich den Varden
nicht angeschlossen; er hat ihnen
dabei geholfen, sich zusammenzuschließen.« Orik machte eine Pause,
um Asche ins Wasser zu klopfen. »Als Galbatorix König wurde, war
Brom außer den Abtrünnigen der einzige Drachenreiter, den es noch
gab.«
»Aber da war er doch gar kein Reiter mehr.
Sein Drache wurde bei der Schlacht in Dorú Areaba getötet.«
»Nun, dann war er eben ein ehemaliger
Reiter. Jedenfalls war Brom derjenige, der die im Exil lebenden
Freunde und Verbündeten der Drachenreiter um sich scharte und
Hrothgar überredete, den Menschen in Farthen Dûr Unterschlupf zu
gewähren. Außerdem gewann er die Unterstützung der Elfen.«
»Warum wurde Brom nicht Anführer der
Varden?«
Orik lachte trocken. »Vielleicht hat er es
nie gewollt. Das war, bevor Hrothgar mich adoptierte, deshalb habe
ich von Brom in Tronjheim nicht viel gesehen... Er war immer
unterwegs, entweder um gegen die Abtrünnigen zu kämpfen oder weil
er irgendetwas anderes ausheckte.«
»Deine Eltern sind tot?«
»Ja. Sie starben an Pockenfieber, als ich
noch ganz klein war, und da Hrothgar keine eigenen Kinder hat,
besaß er die Güte, mich bei sich aufzunehmen und zu seinem Erben zu
machen.«
Eragon dachte an seinen Helm mit dem Emblem
des Ingietum-Clans. Zu mir war Hrothgar
auch gut.
Als es am späten Nachmittag allmählich
dunkler wurde, stellten die Zwerge in den Ecken der Flöße Laternen
auf. Sie verströmten rötliches Licht, was, wie Eragon auffiel, die
Nachtsicht deutlich verbesserte. Er stand neben Arya und
betrachtete eine der Laternen. »Weißt du, wie sie funktionieren?«,
fragte er die Elfe.
»Es ist ein Zauber, den wir den Zwergen vor
langer Zeit geschenkt haben. Sie gebrauchen ihn mit großem
Geschick.«
Eragon kratzte sich am Kinn und spürte den
strubbeligen, weichen Bartflaum, der ihm neuerdings wuchs. »Würdest
du mir während unserer Reise neue Magie beibringen?«
Sie schaute ihn an, stand in perfektem
Gleichgewicht auf den schaukelnden Holzstämmen. »Das ist nicht
meine Aufgabe. Ein Lehrer wartet auf dich.«
»Dann verrate mir wenigstens, was der Name
meines Schwerts bedeutet.«
Aryas Stimme war ganz leise. »Es bedeutet
›Kummer‹. Und den beschwor es auch herauf, bevor es in deine Hände
gelangte.«
Missmutig starrte Eragon auf Zar’roc. Je
mehr er über das Schwert erfuhr, umso böser und bedrohlicher
erschien es ihm, als könnte die Klinge aus eigener Kraft Unheil
anrichten. Wäre es kein Geschenk von Brom gewesen und wäre Zar’roc
nicht gewöhnlichen Klingen weit überlegen, hätte Eragon es in
diesem Moment am liebsten in den See geworfen.
Bevor es noch dunkler wurde, schwamm Eragon
zu Saphira hinaus. Zum ersten Mal seit ihrer Abreise aus Tronjheim
flogen sie miteinander, kreisten hoch über dem See, wo die Luft
dünn und das Wasser unter ihnen nur eine purpurne Fläche war.
Da sie ohne Sattel flogen, presste Eragon
die Knie an Saphiras Seiten und spürte, wie ihre harten Schuppen an
den Narben rieben, die er sich bei ihrem allerersten gemeinsamen
Flug zugezogen hatte.
Als Saphira sich in eine lang gezogene
Linkskurve legte und auf einem Aufwind noch weiter in die Höhe
stieg, sah er, wie sich unter ihnen drei braune Punkte vom Berghang
lösten und auf sie zugeflogen kamen. Zuerst hielt Eragon sie für
Falken, aber dann sah er, dass die Vögel gut fünf Meter lang waren
und sich verjüngende Schwänze und ledrige Flügelschwingen hatten.
Eigentlich sahen sie aus wie Drachen, aber ihre Körper waren
kleiner, schmaler und schlangenhafter als Saphiras. Auch
schimmerten ihre Schuppen nicht, sondern waren grün und braun
gescheckt.
Eragon machte Saphira auf die Besucher
aufmerksam. Könnten es Drachen
sein?, fragte er sie.
Ich weiß
nicht. Sie schwebte auf der Stelle und musterte die
Neuankömmlinge, die sie neugierig umkreisten. Die Vögel schienen
über Saphira und ihre Größe zu staunen. Immer wieder kamen sie auf
sie zugeschossen und drehten erst im letzten Moment ab.
Grinsend versuchte Eragon, in den Geist der
Riesenvögel einzudringen. Als es ihm gelang, schreckten sie zurück
und rissen kreischend die Schnäbel auf wie hungrige Schlangen. Das
durchdringende Geschrei war ein Angriff, der gleichermaßen Körper
und Geist galt. Er durchfuhr Eragon mit wilder, ungestümer Kraft,
mit der Absicht, ihn außer Gefecht zu setzen. Auch Saphira spürte
es. Unter ohrenbetäubendem Lärm griffen die Riesenvögel mit ihren
messerscharfen Klauen an.
Halt dich
fest, warnte Saphira ihn. Sie legte den linken Flügel an
und wirbelte herum, wich dabei zwei Angreifern aus und stieg dann
rasch in die Höhe, bis sie über dem dritten Vogel schwebte.
Gleichzeitig versuchte Eragon, das Gekreische mit einem geistigen
Schutzwall zu blockieren, und beschwor seine Magie
herauf. Töte sie nicht, sagte
Saphira. Ich möchte ein bisschen
spielen.
Obwohl die Tiere wendiger waren als Saphira,
besaß sie den Vorteil ihrer Masse und Größe. Sie drehte sich auf
den Rücken und ließ sich in die Tiefe fallen. Eragons Magen schlug
Purzelbäume. Der Vogel unter ihr sauste auf sie zu, und sie trat
ihn mit den Hinterbeinen in die Brust, sodass er sich mehrmals
überschlug.
Das Kreischen verlor an Intensität.
Saphira stellte ihre Flügel aus und flog
eine scharfe Rechtskurve, bis sie vor den beiden anderen Angreifern
schwebte, die nun direkt auf sie zuhielten. Sie hob den Kopf -
Eragon vernahm ein tiefes Brummen zwischen ihren Rippen - und
schnaubte einen gewaltigen Feuerstrahl aus den Nüstern. Ein
bläulich schimmernder Lichtkranz umhüllte Saphiras Kopf und ließ
ihre Schuppen wie Edelsteine glitzern, bis ihr ganzer Körper
strahlte und von innen heraus zu leuchten schien.
Die Riesenvögel protestierten kreischend und
drehten ab. Der geistige Angriff erstarb, als sie wieder zum
Berghang hinunterflogen.
Du hättest mich fast
abgeworfen, sagte Eragon und nahm die verkrampften Arme
von Saphiras Hals.
Sie schaute blinzelnd zu ihm
zurück. Ja, aber nur fast.
Verrücktes
Ding, lachte er.
Ausgelassen wegen ihres kleinen Siegs,
kehrten sie zu den Flößen zurück. Als Saphira im Wasser landete,
rief Orik: »Seid ihr verletzt?«
»Nein«, rief Eragon zurück. Das eisige
Wasser umströmte seine Beine, während Saphira zum Floß schwamm.
»Gehören diese Vögel auch zu den Tieren, die es nur im Beor-Gebirge
gibt?«
Orik zog ihn aufs Floß. »Ja. Wir nennen sie
Fanghur. Sie sind nicht so intelligent wie Drachen und spucken kein
Feuer, aber es sind trotzdem ernst zu nehmende Gegner.«
»Das haben wir gemerkt.« Eragon massierte
seine Schläfen, um die Kopfschmerzen zu lindern, die der
Fanghur-Angriff bei ihm ausgelöst hatte. »Aber Saphira war ihnen
trotzdem überlegen.«
Selbstverständlich, sagte sie.
»Es ist ihre Jagdmethode«, erklärte Orik.
»Sie schicken ihren Geist aus, um ihre Beute zu lähmen, während sie
sie töten.«
Saphira spritzte mit dem Schwanz Wasser auf
Eragon. Das ist eine gute Idee!
Vielleicht sollte ich das auch mal versuchen, wenn ich das nächste
Mal jagen gehe.
Er nickte. Es kann
auch im Kampf hilfreich sein.
Arya kam zum Floßrand. »Ich bin froh, dass
ihr die Vögel nicht getötet habt. Fanghur sind so selten, dass man
die drei schmerzlich vermisst hätte.«
»Trotzdem wildern sie mehr als genug in
unseren Herden«, brummte Thorv aus der Kabine. Der Zwerg kam heraus
und marschierte zu Eragon; er zupfte sich verärgert am Bart. »Ich
möchte nicht, dass du fliegst, solange wir in den Bergen sind,
Schattentöter. Es ist schon schwer genug, dich zu beschützen, ohne
dass du und dein Drache Luftkämpfe mit diesen Windvipern
austragt.«
»In Ordnung. Wir bleiben auf der Erde, bis
wir das Flachland erreichen«, versprach Eragon.
»Gut.«
Als sie für die Nacht Halt machten, banden
die Zwerge die Flöße an Espen fest, die an der Mündung eines
kleinen Bachs standen. Ama kümmerte sich um das Feuer, während
Eragon Ekksvar half, Schneefeuer an Land zu bugsieren. Sie ließen
den Hengst auf einer saftigen Wiese grasen.
Thorv überwachte das Aufstellen der sechs
Zelte. Hedin sammelte genügend Brennholz, um bis zum Morgen das
Feuer in Gang zu halten, und Dûthmér holte den Proviant vom zweiten
Floß und kümmerte sich ums Essen. Arya hielt am Lagerrand Wache,
und Ekksvar, Ama und Tríhga gesellten sich zu ihr, nachdem sie ihre
Aufgaben erledigt hatten.
Als Eragon merkte, dass es für ihn nichts zu
tun gab, setzte er sich zu Orik und Shrrgnien ans Feuer. Shrrgnien
zog die Handschuhe aus und hielt seine vernarbten Hände über die
Flammen. Eragon sah, dass aus den Knöcheln - außer am Daumen -
glänzende Stahlnieten herausragten, jede vielleicht
fingerdick.
»Was sind das für Dinger?«, fragte er den
Zwerg.
Shrrgnien sah Orik an und lachte. »Das sind
meine Ascûdgamln... meine
›Stahlfäuste‹.« Ohne aufzustehen, schlug er gegen einen Espenstamm
und hinterließ vier symmetrische Löcher in der Rinde. Shrrgnien
lachte erneut. »Man kann damit kräftig zuschlagen, was?«
Eragons Neugier und Neid waren geweckt. »Wie
werden diese Nieten hergestellt? Ich meine, wie befestigt man sie
am Knöchel?«
Shrrgnien zögerte, suchte nach den richtigen
Worten. »Ein Heiler versetzt einen in Tiefschlaf, damit man keinen
Schmerz spürt. Dann werden in die Gelenke Löcher... gebohrt, sagt man, oder?« Er brach ab und sprach
rasch zu Orik in der Zwergensprache.
»In jedes Loch wird eine Metallfassung
eingelassen«, erklärte Orik weiter. »Man befestigt sie mit Magie am
Knochen, und wenn der Krieger vollständig genesen ist, kann er
Nieten in verschiedenen Größen in die Fassungen schrauben.«
»Ja, schau«, sagte Shrrgnien grinsend. Er
schraubte die Niete über dem linken Zeigefinger heraus und reichte
sie Eragon.
Interessiert rollte Eragon das scharfe
Metallstück zwischen den Fingern. »Ich hätte auch gern
Stahlfäuste.« Er gab Shrrgnien die Niete zurück.
»Es ist eine gefährliche Operation«, sagte
Orik. »Nur wenige Knurlan besitzen die Ascûdgamln, denn wenn man die Löcher zu tief bohrt,
sind die Hände nicht mehr zu gebrauchen.« Er hob eine Faust und
zeigte sie Eragon. »Unsere Knochen sind dicker als eure. Bei
Menschen funktioniert es wahrscheinlich nicht.«
»Dann lasse ich es wohl lieber bleiben.«
Trotzdem stellte Eragon sich vor, wie es wohl wäre, mit
den Ascûdgamln zu kämpfen und
jeden Gegner, einschließlich schwer gepanzerter Urgals, mit einem
gezielten Fausthieb niederstrecken zu können. Ihm gefiel der
Gedanke.
Nach dem Essen zog sich Eragon in sein Zelt
zurück. Das Feuer war hell genug, um neben dem Zelt Saphiras
Silhouette erkennen zu können, die wie eine aus schwarzem Papier
ausgeschnittene Figur am Zeltstoff klebte.
Eragon saß da, hatte die Decke über die
Beine gezogen und starrte in den Schoß. Er war todmüde, wollte sich
aber noch nicht schlafen legen. Er dachte an sein Zuhause und
fragte sich, wie es Roran, Horst und den anderen Menschen in
Carvahall wohl ging und ob es im Palancar-Tal schon so warm war,
dass die Bauern mit der Aussaat beginnen konnten. Plötzlich hatte
Eragon Heimweh und wurde tieftraurig.
Er holte eine Holzschale aus seinem Bündel,
nahm seinen Wasserschlauch und füllte die Schale bis zum Rand mit
Flüssigkeit. Dann stellte er sich Roran vor und
flüsterte: »Draumr kópa.«
Wie immer wurde das Wasser erst trübe, bevor
es aufklarte und die Person oder den Gegenstand zeigte, den man mit
der Traumsicht zu finden suchte. Eragon sah Roran allein in einem
von Kerzenlicht erleuchteten Zimmer sitzen, das er aus Horsts Haus
kannte. Roran muss seine Anstellung in
Therinsford aufgegeben haben, schlussfolgerte Eragon.
Roran hockte auf den Knien, knetete die Hände und starrte mit einem
Gesichtsausdruck an die Wand, der Eragon verriet, dass sein Cousin
mit einem schwierigen Problem rang. Trotzdem, Roran sah gesund aus,
obwohl er ein bisschen in sich gekehrt wirkte. Nach einer Minute
löste Eragon die Magie, beendete den Zauber und ließ das Bild von
der Wasseroberfläche verschwinden.
Beruhigt packte Eragon die Schale wieder in
sein Bündel, dann legte er sich hin und zog sich die Decke bis ans
Kinn. Er schloss die Augen und sank in den behaglichen
Dämmerzustand, der das Bewusstsein vom Schlaf trennt, wo die
Wirklichkeit im Strom der Gedanken verschwimmt, wo frei von allen
Fesseln die Fantasie erblüht und alles möglich ist.
Bald überwältigte ihn der Schlaf. Der
Großteil seiner Nachtruhe war ereignislos, aber kurz vor dem
Erwachen hatte er statt der üblichen Träume eine Vision, die so
klar und lebendig war wie eine wirkliche Begebenheit.
Er sah einen schwarzen,
rauchverhangenen Himmel. Krähen und Adler kreisten über Schwärmen
von Pfeilen, die in hohem Bogen über ein Schlachtfeld flogen. Ein
Mann mit zerbeultem Helm und blutigem Kettenhemd lag im klumpigen
Schlamm, das Gesicht von einem Arm verdeckt.
Eine gepanzerte Hand
schob sich in Eragons Sichtfeld. Der Handschuh war so nahe, dass
der glänzende Stahl alles andere nahezu vollkommen verdeckte. Wie
eine unerbittliche Maschine ballten sich der Daumen und die letzten
drei Finger zu einer Faust; nur der Zeigefinger blieb ausgestreckt
und deutete mit schicksalhafter Endgültigkeit auf den
niedergestreckten Recken.
Eragon hatte die Vision immer noch im Kopf,
als er aus dem Zelt kroch. Er fand Saphira in einiger Entfernung
vom Lager; sie knabberte an etwas Pelzigem. Als er ihr erzählte,
was er gesehen hatte, hielt sie kurz inne, dann warf sie den Kopf
zurück und schlang den Fleischbrocken herunter.
Als du das letzte Mal
eine Vision hattest, sagte sie, erwies sie sich als die korrekte Voraussage bestimmter
Ereignisse. Glaubst du, in Alagaësia sind Kämpfe im
Gange?
Er trat gegen einen am Boden liegenden
Ast. Ich bin mir nicht sicher... Brom hat
gesagt, man könne mit der Traumsicht nur Menschen, Orte und Dinge
sehen, die man schon kennt. Aber diesen Ort habe ich noch nie
gesehen. Und Arya hatte ich auch noch nie gesehen, als ich in Teirm
zum ersten Mal von ihr träumte.
Vielleicht hat Togira
Ikonoka eine Erklärung dafür.
Während sie ihre Sachen zusammenpackten,
wirkten die Zwerge viel entspannter, da sie nun ein gutes Stück von
Tarnag entfernt waren. Als sie wieder auf den See hinaussteuerten,
stimmte Ekksvar, der Schneefeuers Floß lenkte, mit seiner kehligen
Brummstimme ein Lied an:
Auf zu neuen
Ufern,
Wir schunkeln und schaukeln
Durch Kílfs kaltes Nass
Für Stein und Halle und Ehr.
Wir schunkeln und schaukeln
Durch Kílfs kaltes Nass
Für Stein und Halle und Ehr.
Durch die Lüfte der
Adler,
Durch des Eiswolfs Heim,
Selbst durch finstersten Wald
Für Eisen, Gold und Edelstein.
Durch des Eiswolfs Heim,
Selbst durch finstersten Wald
Für Eisen, Gold und Edelstein.
Sollen Freund und Feind
doch gaffen,
Die Axt, sie wird euch lachen,
Wenn ich auszieh fort ins ferne Land
Durch Feuer, Eis und Wüstensand.
Die Axt, sie wird euch lachen,
Wenn ich auszieh fort ins ferne Land
Durch Feuer, Eis und Wüstensand.
Die anderen Zwerge stimmten mit ein und
sangen die nächsten Verse in ihrer Sprache. Das tiefe
Stimmengebrumm begleitete Eragon, als er auf dem Floß nach vorne
ging, wo Arya im Schneidersitz auf den Holzstämmen saß.
»Ich hatte im Schlaf eine... eine Vision«,
sagte er. Arya schaute interessiert auf, und er schilderte ihr, was
er gesehen hatte. »Wenn es die Traumsicht war, dann -«
»Es war keine Traumsicht«, sagte Arya. Sie
sprach ganz langsam, als wollte sie jedes Missverständnis
vermeiden. »Ich habe lange darüber nachgedacht, wie du mich im
Gefängnis in Gil’ead hast sehen können, und ich glaube, dass
während meiner Bewusstlosigkeit mein Geist nach Hilfe suchte, wo
immer er sie finden würde.«
»Aber warum gerade bei mir?«
Arya nickte zu der Stelle, wo Saphira durchs
Wasser pflügte. »Ich war Saphiras Gegenwart gewohnt, nachdem ich
fünfzehn Jahre über ihr Ei gewacht hatte. Ich habe wohl nach
irgendetwas Vertrautem gesucht, als ich in deine Träume
eindrang.«
»Warst du wirklich so stark, um von Gil’ead
aus jemanden in Teirm finden zu können? Besonders da man dich ja
betäubt hatte.«
Der Hauch eines Lächelns huschte über Aryas
Lippen. »Ich könnte vor Vroengards Toren stehen und trotzdem so
deutlich mit dir reden, wie wir es hier und jetzt tun.« Sie machte
eine Pause. »Du hast mich in Teirm nicht mit der Traumsicht gesehen
und auch diese neue Vision nicht, sondern vermutlich hattest du
eine Vorahnung. Bei den uralten Völkern waren Vorahnungen an der
Tagesordnung, besonders unter den Magiekundigen.«
Das Floß wackelte, und Eragon griff nach dem
Strick, der um einen Proviantstapel gebunden war. »Kann man das,
was ich in meiner Vision gesehen habe, verhindern, sodass es nicht
wahr wird? Spielt es eine Rolle, was wir tun? Und was geschieht,
wenn ich einfach vom Floß springe und ertrinke?«
»Das wirst du nicht tun.« Arya tauchte den
linken Zeigefinger ins Wasser und betrachtete den einzelnen
Tropfen, der wie eine zitternde Linse an ihrer Haut hing. »Vor
langer Zeit hatte der Elf Maerzadí die Vision, dass er in einer
Schlacht aus Versehen seinen Sohn töten würde. Statt weiterzuleben
und es geschehen zu lassen, beging er Selbstmord, rettete dadurch
seinen Stammhalter und bewies gleichzeitig, dass die Zukunft nicht
unveränderbar ist. Aber von Selbstmord einmal abgesehen, kann man
eigentlich nichts tun, um sein Schicksal zu ändern, da man nicht
weiß, welche Entscheidungen einen zu dem bestimmten Punkt führen,
den man gesehen hat.« Sie schüttelte die Hand und der Tropfen fiel
auf die Holzplanke zwischen ihnen. »Wir wissen, dass man
Informationen aus der Zukunft erlangen kann - Wahrsager können oft
den Weg erspüren, den ein Mensch beschreitet -, aber wir sind nicht
imstande, diesen Vorgang derart zu verfeinern, dass man sich
aussuchen kann, was, welchen Ort und welchen Zeitpunkt man sehen
möchte.«
Eragon fand das alles sehr verwirrend. Es
warf zu viele Fragen über das Wesen der Realität
auf. Ganz gleich, ob es eine
schicksalhafte Vorbestimmung gibt oder nicht, ich kann nur die
Gegenwart genießen und so ehrenhaft wie möglich
leben. Und trotzdem stellte er der Elfe noch eine Frage:
»Was sollte mich davon abhalten, mit der Traumsicht meine
Erinnerungen zu besuchen? Die Dinge habe ich mit eigenen Augen
gesehen... da sollte ich sie doch mit Magie noch einmal betrachten
können.«
Aryas Blick heftete sich auf seinen. »Lass
es bleiben, wenn dir dein Leben lieb ist. Vor vielen Jahren haben
sich mehrere unserer Magier der Aufgabe verschrieben, das Rätsel
der Zeit zu lösen. Als sie versuchten, die Vergangenheit
heraufzubeschwören, sahen sie auf ihren Spiegeln nur verschwommene
Bilder, bevor der Zauber ihre Kräfte verzehrte und sie allesamt
tötete. Daraufhin haben wir die Experimente eingestellt. Es wird
behauptet, der Zauber würde funktionieren, wenn nur genügend
Magiekundige dabei mitwirkten, aber keiner möchte das Risiko
eingehen, deshalb wurde die Theorie nie bewiesen. Selbst wenn man
in die Vergangenheit reisen könnte, hätte es nur einen begrenzten
Nutzen. Und um mit der Traumsicht die Zukunft zu sehen, müsste man
schon genau wissen, was wann und wo geschieht, und dann wäre es ein
überflüssiges Unterfangen.
Es bleibt also ein Geheimnis, warum
bestimmte Menschen im Schlaf Zukunftsvisionen haben, wie ihnen
unbewusst etwas gelingt, woran unsere größten Gelehrten gescheitert
sind. Es könnte mit dem ureigenen Wesen der Magie zusammenhängen...
Oder diese Visionen kommen auf ähnliche Weise zustande wie die
kollektiven Erinnerungen der Drachen. Wir wissen es nicht. Viele
Wege der Magie müssen erst noch erkundet werden.« Sie stand mit
einer anmutigen Bewegung auf. »Gib Acht, dass du dich nicht auf
ihnen verirrst.«